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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Auf die Frage, warum seine Romane immer kürzer und kürzer würden, gab Graham Greene unlängst grimmig zur Antwort: »Weil ich immer älter und älter werde.«
Auch in seinem neuesten Roman, soeben veröffentlicht, hat er sich ziemlich kurz gefaßt. »The Captain and the Enemy« heißt er im Original, auf deutsch »Ein Mann mit vielen Namen« - es könnte sein allerletzter sein _(Graham Greene: »Ein Mann mit vielen ) _(Namen«. Aus dem Englischen von Monika ) _(Blaich. Paul Zsolnay Verlag, Wien; 224 ) _(Seiten; 29,80 Mark. ) . »Denn ich glaube nicht«, sagte Greene, die hagere Gestalt gebeugt von den Erosionen der 84 Jahre, »daß ich noch einen Roman schreibe, Kurzgeschichten vielleicht, aber nichts Größeres mehr.«
Fast sechs Jahrzehnte ist es her, daß sein erstes Werk erschien, und über 40 Bücher, darunter Theaterstücke, Essays, Reiseaufzeichnungen, zwei Autobiographien, hat er seitdem hervorgebracht. Sie trugen ihm zwar immer noch nicht den Nobelpreis ein, weil nämlich, wie Greene zu wissen meint, in der Stockholmer Akademie einer sitzt, der beharrlich sein Veto einlegt: »Graham Greene - nur über meine Leiche.« Doch auch Mr. Lundkvist kann nicht verhindern, daß alle Welt in ihm den berühmtesten lebenden Autor englischer Sprache sieht.
Er ist eine Berühmtheit von melancholisch gedämpftem Wesen und unauffälliger Lebensart. Mit den Vorschüssen fürs Drehbuch zum legendären »Dritten Mann« hat er sich einst ein Häuschen auf Capri gekauft, oben in den Bergen, in magischer Stille, in der er schon oft sein bestes Erzählgarn spann. Er hat auch ein schmales Appartement in Paris.
Am liebsten aber, wenn er nicht gerade wieder einmal auf Achse ist, zu Besuch beim Sohn in England oder bei der Tochter und den Enkelkindern in der Schweiz, auf Reisen durch die Sowjet-Union oder Lateinamerika, verlebt er seine alten Tage an der Cote d''Azur, im vertrauten Umgang mit der »sehr guten Freundin Y.«, der er auch, »mit allen Erinnerungen, die wir beinahe 30 Jahre teilen«, seine traurige Liebesgeschichte von dem »Mann mit vielen Namen« gewidmet hat.
Hier, in Antibes, Avenue Pasteur, 4. Stock, mit Balkonaussicht auf den riesigen Jachthafen, den tosenden Verkehrsstrom unten auf der Route Nationale und die vom nahen Airport Nizza himmelan röhrenden Jets, besitzt er eine kleine Zweizimmerwohnung, und hier schreibt er jeden Tag seine 300 Wörter, aus Selbsterhaltungstrieb, wie er versichert, um sein Gewissen zu beruhigen, um die Depressionen zu bannen, die ihn in Perioden des Müßiggangs noch immer heimsuchen, wenngleich nicht mehr ganz so stürmisch wie ehedem.
Schwermut, Weltschmerz, Lebensüberdruß: Dieses Romantikersyndrom, auf englisch Spleen genannt, hat ihn gepeinigt von Kindheit an, seit den »endlosen Jahren« im Elternhaus und der von »Furzgestank« durchwehten Schulzeit im Internat.
Er war 16 Jahre alt, da schickten die Eltern den Jüngling zum Psychoanalytiker. Als Student in Oxford rannte er, um wenigstens für Augenblicke der »drückenden Langeweile« zu entkommen, zum Dentisten und ließ sich im Ätherrausch einen gesunden Zahn ziehen. Mit 19, aus »heftigem Verlangen nach der Adrenalinspritze«, griff er zum Damenrevolver seines älteren Bruders und spielte russisches Roulett, sechsmal insgesamt, ohne Knalleffekt.
Und »eine Art russisches Roulett«, erzählt Graham Greene in seinen Memoiren, habe er auch später noch oft gespielt, »als ich zum Beispiel, ohne Afrika zu kennen, auf einem absurden Weg leichtsinnig Liberia durchquerte; es war die Angst vor der Langeweile, die mich in der Zeit der religiösen Verfolgung nach Tabasco trieb, in eine Leproserie im Kongo, ins Kikuyu-Reservat während des Mau-Mau-Aufstandes, in den Bürgerkrieg nach Malaya, und schließlich in den Indochina-Krieg«.
»Dieses Gefühl der Ungewißheit, ob ich morgen noch da bin oder nicht, habe ich immer sehr genossen«, erinnert sich der alte Herr in Antibes mit blaßblauem Blick, getrübt von den Weinen und Whiskys und Wodkas eines langen lebens. Er denkt zurück an manch anderen trouble spot dieser Erde, den er inspiziert hat. Ein bewegtes, abenteuerliches, oft glückliches Leben sei es gewesen, sagt er, aber ein wirklich erfolgreiches Leben - »nein, das war es nicht«.
Denn obgleich er gern einräumt, »kein schlechter Geschichtenerzähler« zu sein, seinen Ruhm betrachtet er in christlicher Demut. Mit einem Priester vergleicht er sich, dem, wie ihm selbst, die wahre Gnade versagt bleibt: »Aus dem Priester, so sehr er danach streben mag, wird nie ein Heiliger werden, und aus mir nie ein zweiter Dickens oder Trollope, Joseph Conrad, Henry James.«
Doch getrost. »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen«, so steht es geschrieben, und eigentümlich in ihrer Kraft und Herrlichkeit ist die Romanwelt, die man »Greeneland« nennt - dieses düstere Land, durchirrt von desolaten Glaubensbrüdern des Katholiken Graham Greene, von Außenseitern, Versagern, Gestrauchelten, Abgewrackten, Verdammten im »Zwiespalt der Seele«, am »Abgrund des Lebens«, im »Zentrum des Schreckens«, im Hader mit Gott und der irdischen Misere.
Arme Narren in Christo sind sie wie jener »Whisky-Priester«, der im Mexiko der revolutionären Pfaffenfresser unbeirrt die Beladenen tröstet mit Sakrament und Absolution und dafür an die Wand gestellt wird; ausgebrannte Fälle wie der Architekt Querry, der seiner Existenz- und Schaffenskrise entflieht und tief im Kongo unter Lepra-Krüppeln endet; von Gewissensbissen zernagte Geschöpfe wie Major Scobie auf Posten in Sierra Leone, den die Sünde des Ehebruchs in den Selbstmord treibt; aber auch triste Schlitzohren wie »Unser Mann in Havanna«, dem der britische Secret Service auf den Leim geht.
Lang ist der Reigen trauriger Gestalten in Greenes melodramatischer Welt. Immer älter und älter werden sie von Roman zu Roman, und schon jenseits der 60 (im »Menschlichen Faktor") ist der gute Verräter Maurice Castle von MI6, der sich so nach Sicherheit, Ruhestand und Seelenfrieden sehnt und schließlich, genau wie Greenes unlängst verstorbener Freund Kim Philby, in Moskau strandet, wo er, hoffnungslos fern von Weib und Kind und dem Zuspruch der katholischen Kirche, in der Lenin-Bibliothek die »Times« liest und Trost bei »Robinson Crusoe« sucht.
In der »tragikomischen« Gegend von La Mancha aber lebt in Einfalt der Gemeindepfarrer Quijote, ein leibhaftiger Nachfahr des edlen Junkers. In seinem klapprigen Gebrauchtwagen »Rocinante«, vollgepackt mit Mancha-Wein, fährt er mit dem kommunistischen Genossen Sancho Pansa über Land, hinein in wundersame Abenteuer, um den Hilfsbedürftigen beizustehen, bis ihm im Kampfgetümmel ein Weihrauchfaß den Schädel einschlägt und er, auf der Flucht vor seinen Häschern, im Sanctuarium eines galicischen Trappistenklosters das Zeitliche segnet.
»Monsignore Quijote«, dieser sanfte Spinner in apotheotischer Verklärung, vor nunmehr sechs Jahren in die Welt gesetzt: Einem grotesken Selbstbildnis des Autors scheint er zu ähneln, einem Graham Greene, der in der Abenddämmerung des Daseins die Torheit lobt und noch einmal in wehmütiger Ironie all seiner Eskapaden gedenkt, bevor er furchtlos auf die letzte Reise geht.
Doch noch war das Ende aller Fahrten nicht gekommen, und der alte Meister
schrieb weiter seine 300 Wörter pro Tag und vollendete so das Werk, das er schon vor 17 Jahren begonnen und dann lange liegenlassen hatte: die Geschichte vom mysteriösen Captain alias Colonel Claridge, oder auch Carver oder einfach Smith, dem Mann mit vielen Namen.
»Ein bißchen wie ein kostümierter Schauspieler« sah er aus, so erinnert sich im Roman der Ich-Erzähler Jim Baxter seines zwölften Geburtstags, als der Captain auf den Schulhof trat mit Spazierstock und Melone, ihn regelrecht entführte aus der Drangsal des Internats und mit sich nahm an Sohnes Statt, denn schließlich hatte er den Knaben gerade seinem leiblichen Vater abgeknöpft beim nächtlichen Backgammonspiel - oder war''s beim Schach gewesen?
Ein dubioser Typ ist der Captain, erkennt der kleine Jim, der in ersten anschaulichen Lektionen auch gleich lernt, wie man richtig lügt und betrügt und die Zeche prellt. So reisen die beiden nach London, wo der Mann der vielen Pseudonyme in verrufener Gegend lichtscheu in einer Kellerwohnung haust, zusammen mit seiner Liza. Ihr hatte der schlimme Baxter senior vor Jahren ein Kind gemacht und dazu die Abtreibung bezahlt, nun schenkt ihr der Captain den Jungen als Ersatz und Gefährten in ihrer Einsamkeit.
Denn wie sehr er sich auch sorgt um sein liebes Mädchen - immer wieder ist der Windhund fort, unterwegs in zwielichtigen Geschäften, oft für Wochen und Monate, während Liza in der Zeitung die Kriminalfälle studiert. »Ich glaube manchmal, er ist für diese Welt einfach zu gütig«, sagt sie zu Jim, der so »gern die einzigen zwei Menschen verstehen möchte, bei denen ich das, was in gewisser Weise wohl doch als Liebe bezeichnet werden darf, beobachten konnte«.
Doch was war das für eine Liebe, die nur aus Trennung bestand? »Was hatte diese beiden Menschen so eng zusammengebracht und dennoch auf so merkwürdige Weise voneinander ferngehalten?« Und warum überhaupt hatte sich dieser Abenteurer eine Familie aufgehalst? Jahre vergehen, in denen der Captain sich nicht blicken läßt und Grüße schickt aus Kolumbien und Panama. »Ich bin bald ein reicher Mann, Liza, das schwöre ich«, schreibt er.
Als aber Jim ihn dann endlich wiedersieht in Panama-City, einen müden Desperado mit »faltigem Altmännergesicht«, ist Liza schon tot und aus der Traum vom Leben zu dritt in Reichtum und Sicherheit. Mit seinem abgetakelten kleinen Flugzeug, in dem er Waffen transportierte für die Sandinisten in Nicaragua, fliegt der Captain davon und kehrt nie mehr zurück.
»Getting to Know the Captain«, Wie ich den Captain kennenlernte, so sollte der Roman ursprünglich heißen. Doch wirklich kennengelernt hat der Erzähler Jim ihn nie. Unbegreiflich, fast einem Schemen gleich, so geistert er durch Greenes phantastische Altersträumerei von zärtlicher Liebe im Schmelz der Entsagung - ein Mann mit vielen Namen, der bis zum Schluß ein Rätsel bleibt, für Jim sowohl wie für den Leser, ja vielleicht sogar für Graham Greene.
»Ob gut gelungen oder nicht so gut, das Buch ist da«, sagte der Literat in Antibes.
Der Sommer war drückend heiß gewesen an der Cote, und von einem Besuch in London hatte er eine Erkältung mitgebracht. Nicht in der besten Verfassung fühlte er sich, und er schimpfte aufs Alter, das nur Verdruß mit sich bringt. »Mein Gedächtnis läßt nach, mein Gedächtnis für Namen«, klagte er.
Aber Angst vor dem Tod? Nein. »Als ich vor zehn Jahren dachte, ich würde an Darmkrebs sterben, habe ich auch keine Angst gehabt«, sagte der »agnostische Katholik«. »Angst wovor? Entweder es kommt etwas danach, oder es kommt nichts. Wenn nichts kommt, dann ist es in Ordnung. Allerdings, wenn etwas kommt, dann wird es bestimmt sehr unangenehm.« _(Mit Alec Guinness. )
Graham Greene: »Ein Mann mit vielen Namen«. Aus dem Englischen vonMonika Blaich. Paul Zsolnay Verlag, Wien; 224 Seiten; 29,80 Mark.Mit Alec Guinness.
Gunar Ortlepp